Tod im Juli – Sand, Meer und Erde
Voriges Jahr im Januar. Für einige Tage bin ich in meinen geliebten Bergen. Ich trinke den Morgenkaffee auf dem Balkon. Frühstücke, wandle, esse zu Abend. Ich trinke den Abendtee auf dem Balkon. Lese „Echo Mountain“ und gehe schlafen. Einfachheit, Rhythmus und Einsamkeit nähren mich.
Auf der Rückreise erreichen mich sonderbare Zeilen von Hilke, eine meiner engsten Freundinnen. Ich frage sie, ob ich abends noch vorbeikommen kann. „Ja.“ Zu Hause werfe ich den Rucksack ab, setze mich aufs Rad und fahre zu Hilke. Weinend steht sie in der Wohnungstür: „Ich habe Krebs.“
Wir weinen.
Operation im Februar, Chemo von März bis Mai, im Juni drei gute Wochen. Was für eine Freude, als Hilke von ihrem ersten Spaghetti-Eis im Straßencafé erzählt. Wie matt sie auch ist: Sie geht nach draußen, trifft sich wieder und geht shoppen, zum Grillabend, aufs Stadtfest.
Dann eine Beule in der Leiste. Kurz darauf das lange geplante CT. Drei Metastasen. Eine davon die Beule.
– Meine Leiste macht sich bemerkbar. –
Einer der letzten Tage im Juni. Hilke beginnt die zweite Chemo. Am Abend besuche ich eine Lesung von Zsuzsa Bánk: „Sterben im Sommer“. Ein Trauerbuch, das das Leben feiert. Heller Sommerabend.
Am nächsten Tag kommt Hilke ins Krankenhaus. Nach zwei Wochen wechselt sie auf die Palliativstation. In der vorletzten Nacht bleibe ich bei ihr. Gemeinsame Zeit. Am 24. Juli stirbt Hilke.
Hilke ist tot.
– Meine Leiste macht sich stärker bemerkbar. –
Die Trauerfeier. Die wunderschöne Urne. Auf Rosen gebettet, bauchig und sandfarben. Die Schmuckleiste ziert Sand, der in Meer übergeht, das ans Ufer fließt. Hilke liebte die Ostsee. Am Vorabend der zweiten Chemo sagte sie unter Tränen: „Noch einmal ans Meer fahren.“ Wir haben es nicht mehr geschafft.
Die Beerdigung. Der Bestatter seilt die Urne ab. Sie sinkt und sinkt und sinkt. Endlos scheinender Moment. Ich wundere mich, bin fasziniert, mein Atem stockt. Endlich berührt die Urne den Boden. Tief in der Erde ist meine geliebte Freundin nun geborgen.
Doch Hilke ist tot. Noch immer ist sie tot. Sie fehlt. Sie fehlt mir. Sie fehlt uns.
– Meine eine Leiste, meine andere Leiste, mein gesamter Bauchraum: Sie alle toben. –
Trauer im August – Meeressaum
Wochen ziehen ins Land.
Der Versuch, meine Körperäußerungen zu ignorieren, scheitert.
Freundinnen reden mir gut zu, mich an meine Hausärztin zu wenden. Und wenn sie etwas Schlimmes findet? Zudem war sie auch Hilkes Ärztin. Und hat sie nicht gerettet.
Ich gehe in meinen Garten. In diesem Jahr blüht er über und über gelb. Der Anblick tut mir gut.
Welche Pflanze, woher auch immer, zu mir gelangt ist, sich niedergelassen hat und nun in Fülle wächst – das erfahre ich, als Hilke bereits gestorben, feierlich betrauert und begraben ist: Johanniskraut. Heilpflanze in der Trauer. Eine alte Frau sagt: Johanniskraut wächst dort, wo es gebraucht wird.
Fortan, Tag für Tag, sammle ich Blüte um Blüte, trockne sie und gebe sie in Öl. Beobachte, bestaune und bewundere, wie sich das Öl nach und nach färbt. Auf der Sonnenfensterbank erwartet mich jeden Morgen eine neue Schönheit: Wieder ist die Farbe tiefer, dunkler, satter. Ich kann mich nicht sattsehen.
Tage, Blüten, Farben. Derweil Eingebungen. So bahnt sich ein Weg, mich meinem Körper zuzuwenden.
Nach und nach fallen mir ein: Die „newslichter“ von Bettina Sahling, ihre Mit-Autorin Imke Rosiejka, deren Video „Plötzlich war der Knoten weg“. Ich schaue erneut und werde erinnert und ermutigt. Was ich höre: ‚Lausche deinem Körper. Er spricht seine eigene Sprache. Übe dich darin, sie zu verstehen.‘
Als ich in den Lektürehinweisen blättere, lässt mich etwas innehalten, aufstehen und zum Regal gehen. Wahllos greife ich ein Buch, ziehe es hervor und lese: „Im Dialog mit dem Körper“ von Susanne Kersig. Bücher stehen dort, wo sie gebraucht werden. Die Grundübung lautet: Einen guten Ort im Körper finden.
Ich liege auf dem Rücken mit den Händen auf dem Bauch. Atme ein, atme aus. Meine Bauchdecke und meine Hände heben und senken sich. Ein und aus. Auf und ab. Rhythmus. Ein inneres Bild stellt sich ein.
Nordsee. Insel. Hängematte. Hängematte über dem Meeressaum. Netzartig, hell und weitmaschig, eben und weiträumig, von Holzbalken gehalten. Sicher und bequem sitze ich darauf. Über mir der Himmel, unter mir der Sand und das Meer. Ich sehe das Meer hin- und herströmen, höre es hin- und herrauschen.
Mit mir auf der Hängematte, in meiner Nähe, sitzt ein Wesen. Freundlich. Hell, eiförmig, groß. Wahrscheinlich weich. Ich kenne es aus einem Bilderbuch. Dort heißt es Traurigkeit. Hier heißt es Trauer.
Trauer und ich sitzen über dem Meeressaum. Wir sprechen. Wir schweigen. Wir sind. Zusammen.
Ich tauche auf. Weine. Ich brauche einen Raum, um mit meiner Trauer um Hilke zusammen zu sein.
Der folgende Forschungsprozess: Fahre ich an die Nordsee und lasse mich trösten? Hat eigentlich jemand der Ostsee eine Traueranzeige geschickt? Sollte ich zur Ostsee fahren, um ihr zu sagen: „Hilke ist tot!“?
Trost im September – Sand, Meer und Himmel
Ein Septemberwochenende. Das Johanniskraut-Öl leuchtet tiefdunkelrot. Meine Fragen lichten sich.
Am Montag gehe ich zur Hausärztin. Ich erzähle von Hilke und meiner Leiste. Wir sprechen über Hilke. Die Ärztin schildert ihr Erleben. Ich höre sie. Und bin endlich erlöst von meinem inneren Vorwurf, sie sei schuld an Hilkes Tod. – Meine Leiste: Am Dienstag Blutabnahme, Besprechung am Donnerstag.
Nach der Blutabnahme und für den Rest des Tages beobachte ich mich bei Ausflugsvorbereitungen. Abends ist klar: Am nächsten Tag werde ich zur Ostsee fahren. Der Ostsee sagen: „Hilke ist tot!“
Ich schlafe aus und nehme den späteren Zug. Ein Koffer rollt mir entgegen. Er gehört einem alten Mann. Wir beginnen zu plaudern. Ich frage ihn nach seiner Reise, er erzählt und fragt dann mich. Schlucken. „Ich bin auf Trauerfahrt.“ Hilkes Tod und mein Vorhaben skizzieren.
Der Mann antwortet mir mit einer Geschichte: Sein Freund starb. Daraufhin fuhr er nach Tschechien, setze sich ins Boot und paddelte die Elbe hinunter bis nach Hamburg. Drei lange Wochen lang. Den Fluss fließen lassen. Das Boot treiben lassen. Die Trauer abfließen lassen.
Ich bin nicht alleine damit, mich in der Trauer ans Wasser zu wenden.
Mit dem Rad reise ich weiter. Mein Ziel ist der Ort, an dem mir Hilke vor Jahren ihre Ostsee gezeigt hat.
Bei meiner Ankunft bin ich angespannt. Ich möchte barfuß am Wasser laufen, kann mich aber nicht entschließen, die Schuhe auszuziehen. Ich habe einen Auftrag! Und so sage ich der Ostsee wieder und wieder: „Hilke ist tot!“ Ohne eine Antwort zu vernehmen. Hört sie mich nicht?
Erst später, im Austausch, verstehe ich: Ich gedachte, die Ostsee zu trösten. Sie aber tröstet mich. Mit zwei Bildern und einer Geste. Diese drei und das, was ich in ihnen sehe, sind so schlicht, klar, wahr, dass ich den Trost, den sie mir bedeuten, zunächst übersehe. – Das sind die Antworten der Ostsee:
Ich setze mich auf eine Bank, schließe die Augen, höre das Meer, atme und entspanne. Öffne die Augen.
Am Ufer steht eine Frau im Badeanzug. Langsam geht sie ins Wasser. Bis zur Hüfte. Dann hält sie inne. In diesem Moment ist die Ostsee eigentümlich still. Glatte Oberfläche. Keine Bewegung, kein Geräusch. Eine Lichtfläche ohne sichtbare Quelle. Am Horizont: Wo endet das Wasser? Wo beginnt der Himmel?
Eine unwirkliche Atmosphäre. Überwirklich? Ein Bild, das ich festhalten möchte.
Wie oft habe ich Hilke auf unseren Badeausflügen ins Wasser gehen sehen. Auch jetzt „sehe“ ich sie: Hilke geht in eine andere Sphäre.
Die Welt dreht sich weiter. Die Frau nimmt ihre ersten Schwimmzüge. Ich setze meinen Weg fort.
Er verläuft auf der Strandpromenade und geht am Ortsende in einen Sandweg entlang der Steilküste über. Hier ist außerorts und außerauftrags. Ich gehe so dahin. Auf einmal bleibe ich stehen. Blick zum Wasser.
Ein Halbrund mit Stoffmatten, Sand und Steinen, umgeben von Holzpflöcken. Eine Ufersicherung? Davor blühen zwei orange Mohnblumen. Dahinter liegt, halb auf Sand, halb im Wasser, eine rote Rose.
Hilkes Grab! Hilke und ich als Freundinnen. Meine Rose, die ich Hilke ins Grab lege. (Auf dem Friedhof gab es für uns drei Freundinnen drei Rosen. Als Strauß wurden sie zur Urne gelegt. Zartes Bedauern.)
Die Ostsee sieht uns. Hilke in ihrer Liebe zum Meer, uns als Freundinnen und mich in meiner liebenden Trauer. Sie bereitet Hilke ein Grab am Wasser und schenkt mir eine eigene Rose.
Ich kehre um, erreiche den Ort und werde in Kürze zurückfahren. Ich gehe zum Strand, ziehe meine Schuhe aus und laufe barfuß ins Wasser. Es ist überraschend warm. Es ist überraschend weich. Ich atme auf. Ich koste aus.
Mit bloßen Füßen bin ich berührbar. Die Ostsee berührt mich. Mit einer warmen, weichen Umarmung.
Auf dem Rad fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Den Tag über habe ich meine Leiste nicht gespürt.
Tags darauf. Mein Blut ist hübsch. Ich erzähle von meiner Fahrt und meiner Leiste. Die Ärztin hört mich. Und verabschiedet mich mit den Worten: „Dann war es vielleicht doch Ihre Verbundenheit mit Hilke.“
Liebe Silja,
so nah an dem, was du so bildreich und berührend beschreibst, ist mir die Trauer um meine beste Freundin, die vor zwei Jahren (nach 13 Jahren Kampf gegen den Krebs) über den Regenbogen ging, wieder präsent. Wenn sie nur, denke ich oft, die Botschaft ihres Tumors früher verstanden und erlöst hätte …
Hätte, hätte, hätte – hat sie aber nicht.
Ich durfte in der Begleitung auf ihrem letzten Weg so viel über das Leben und mich lernen und darüber, dass jede/r den eigenen Weg gehen darf – ohne Frust, mit viel Vermissen und unendlicher Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit, gehe ich meinen weiter.
Ich bin tief berührt davon, dass du aus meinem Erleben Impulse hast ziehen können und grüße dich von Herzen und in Verbindung
Imke
Liebe Imke,
eine neue Verbindung webt sich, Faden für Faden.
In deinem Videoraum fühlte ich mich ermutigt, meinem Körper zuzuhören.
In meinem Schreibraum war dir die Trauer um deine beste Freundin wieder präsent.
Von Herzen danke ich dir, dass du meine Geschichte gelesen hast und deine Geschichte hier mit mir und uns teilst.
„mit viel Vermissen und unendlicher Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit“. Die Worte treffen tief. Ja.
Mehr gleich unter deinen Gedanken zum Nachklang.
Webende Grüße
Silja
Liebe Silja,
ich bin gerührt von der Schönheit deiner Worte, deiner Bilder, deiner Trauer.
Und: Ich fühle mich verbunden.
Danke dir für das Teilen!
Liebe Grüße
Sybille
Liebe Sybille,
du siehst die Schönheit meiner Trauer.
Das rührt mich (zu Tränen).
Ich danke dir!
Liebe Grüße
Silja
Liebe Silja,
da wohnt ein feiner Zauber inne! Die Bilder sind in mir aufgetaucht. Abschied und Unendlichkeit, beides ist da. Hilke kannte ich nicht. Ist sie mit anwesend in deinen Zeilen? Mir kommt es so vor. Ich danke dir, dass ich lesen darf und ein Stück weit mitfühlen kann. Liebe Grüße, Birgit
Liebe Birgit,
du öffnest mir die Sinne für den Zauber.
Und erinnerst mich an die Unendlichkeit. Wo siehst du sie? Ich sehe sie im Sand, der ins Meer übergeht, das ans Ufer fließt.
Was verändert sich, wenn wir Unendlichkeit nicht linear, sondern zyklisch verstehen?
Danke!
Liebe Grüße
Silja